Take the Train – Mit dem Arctic Circle Train in den kalten Norden Europas
TEXT & FOTOS
André Baumeister
Ich öffne die Augen, das gewohnte gleichmäßige rattern, welches mich auch im Schlaf die ganze Nacht als beruhigendes Hintergrundgeräusch begleitet hat, bleibt. Kein Traum. Ich drehe mich auf den Bauch und schiebe die Gardine beiseite. Wie aus Gewohnheit suche ich nach meinem Telefon und mache ein Foto für meine Kinder zuhause. Ich will Sie teilhaben lassen an diesem traumhaften Anblick, der in unser immer wärmer werdenden Welt fast wie ein Kindheitstraum anmutet. Irgendwann am frühen Morgen haben wir den Polarkreis überquert. Bevor ich mein Telefon tief im Rucksack vergrabe, um mich möglichst „ungefiltert“ dieser traumhaften Landschaft zuwenden zu können, blicke ich noch einmal auf Google Maps und prüfe unseren Standort. Wir sind im Zeitplan, kurz vor Gällivare in schwedisch Lappland. Die Wetter App zeigt eine aktuelle Temperatur von -12 Grad Celsius. Ein Lächeln macht sich in meinem Gesicht breit, und ich empfinde eine Freude, die irgendwann aus den frühen Jahren meiner Kindheit stammt. Kälte, Klarheit, Schnee, und das für die kommenden zwei Wochen. Ich bin schon häufiger auf dieser Strecke aufgewacht, so dass ich bereits ein festes Morgenritual manifestiert habe. So schnell wie möglich ziehe ich mir etwas über und laufe in den Speisewagen. Zwei bis drei Becher Kaffee und dazu Polarbrot mit Käse. Das alles begleitet von einer vorbeiziehenden Landschaft, die das Lächeln auf meinem Gesicht und die Vorfreude bis zum Zielbahnhof erhalten wird.
Vor ca. 15 Stunden habe ich noch im Kaffee in Stockholm an einem Vortrag gearbeitet und bin anschließend in Richtung Bahnhof geschlendert, um von hier aus um 18 Uhr meine persönliche Lieblings-Zugfahrt anzutreten. Der Zug von Stockholm nach Narvik im Norden Norwegens ist kein Geheimtipp mehr. Noch vor einigen Jahren eine namenlose Strecke auf den Gleisen einer bekannten Eisenerzbahn, wird der Zug heute selbst von offizieller Seite als „Arctic Circle Train“ bezeichnet. Von Stockholm aus fährt man, meist in küstennähe, einmal durch das gesamte Land bis in den äußersten Norden. Hier, im schwedischen Teil Lapplands, wacht man meist kurz vor Gällivare auf, wo die ersten schwedischen Wintersportler den Zug verlassen. Die Touristen bleiben in der Regel sitzen und fahren weiter bis Kiruna oder Abisko, den touristischen Hotspots in diesem Teil des Landes. Wüsste man es nicht schon vorher, würde man sich spätestens in Kiruna fragen, was Menschen aus aller Welt hier oben suchen. Der Streckenabschnitt zwischen Gällivare und Kiruna offenbart nicht unbedingt eine spektakuläre Landschaft. Ein paar krüppelige Fichten, Birken, viel Schnee und zwischendurch ein paar Häuser, die vermutlich an einem See stehen, der nur durch die Abwesenheit von Bäumen zu erahnen ist. Und dann, ja dann kommt Kiruna, die Industrie-Perle Nordskandinaviens, der allenfalls ein wenig Charme abzugewinnen ist, wenn man wie ich im Ruhrgebiet großgeworden ist.
Kiruna ist eine Bergbaustadt, die erst zu Beginn des letzten Jahrhunderts an Größe und Bedeutung gewann. Zwar wurde hier auch schon im 19. Jahrhundert Eisenerz abgebaut, aufgrund des hohen Phosphorgehalts und der ungünstigen geographische Lage blieb der Abbau aber lange Zeit ökonomisch nicht rentabel. Dies änderte sich mit einer neuen Verhüttungstechnik und dem schon bald darauf beginnenden Bau der Bahnstrecke zwischen Luleå und Narvik, der sogenannten Malmbanan. So konnte der Abtransport des Eisenerzes über die Ostsee und die ständig eisfreie norwegische Atlantikküste gewährleistet werden. Die Stadt entstand ebenso auf dem Reißbrett und erreichte mit knapp 25.000 Einwohnern in den 70er-Jahren ihre höchste Einwohnerzahl. Heute leben nur noch 17.000 Menschen in Kiruna, der Bergbau spielt aber nach wie vor die zentrale Rolle. Wie dominant die Grube das Leben aller Bewohner Kirunas beeinflusst zeigte sich 2004, als das Bergbauunternehmen LKAB bekanntgab, dass die Stadt aufgrund des Bergbaubetriebs fast vollständig umgesiedelt werden müsse. Der 2014 vorgelegte Umzugsmasterplan sieht vor, die Stadt 5 km weiter östlich wiederaufzubauen. Denkmalgeschützte Gebäude, wie beispielsweise die Holzkirche von 1912, werden vollständig ab- und an anderer Stelle wiederaufgebaut. Ansonsten ist von potenziellem Denkmalschutz nicht viel zu sehen. Die Stadt ist alles andere als schön, und auch die Landschaft drumherum ist durch die großen Abraumhalden und andere Spuren des Bergbaus geprägt.
Was genau suchen also die Menschen an diesem Ort, die plötzlich dicht gedrängt an der Kiruna Station nach ihrem Taxi oder dem Citybus suchen? Die Antwort ist einfach und recht augenscheinlich. Winter, echter kalter Winter, mit viel Schnee, so wie wir ihn in unserem eher maritim geprägten Westeuropa nur noch selten genießen können. Kiruna hat eine Jahresdurchschnittstemperatur von -2,2 Grad Celsius, und von Oktober bis April liegt die monatliche Durchschnittstemperatur unter dem Gefrierpunkt. Ein gutes halbes Jahr Schneegarantie mit Temperaturen die auch mal die -20 Grad Hürde knacken. Eine „negative“ Temperaturgarantie, die kreative Touristiker sogar dazu veranlasst hat, jedes Jahr ein vollständiges Hotel aus Eis entstehen zu lassen. Der sichere Winter und die gute Infrastruktur sind aber nicht das Einzige, was dieser Region zu einem fast unerwarteten Boom in der Tourismusbranche verholfen hat. Die recht flache und oftmals baumlose Tundra, und die zahlreichen zugefrorenen Flüsse und Seen in der Region, bieten ideale Voraussetzungen für Hundeschlittentouren, die mittlerweile auf keiner gebuchten Rundreise hier oben mehr fehlen dürfen. Doch es fehlt immer noch die touristische Geheimwaffe, quasi der Superköder, mit dem man auch noch den letzten Warmwassertouristen, Asien-Backpacker und Kältehasser in dieses Freiluft-Kühlfach lockt. Aurora Borealis heißt der Zauberköder und es gibt ihn in grün, rot und einem zarten blau bis violett. Die Chance in den Wintermonaten Nordlichter zu sehen ist in Lappland extrem hoch, und dieser Himmelszauber gehört mit Sicherheit zu den faszinierendsten Dingen, die man auf dieser Welt zu Gesicht bekommen kann.
Ich sitze immer noch am Fenster des Speisewagens und beobachte den langsamen Übergang von der Taiga in die baumlose Tundra. Die Nadelbäume verschwinden und weichen den Birken, die hier die Baumgrenze bilden. Um aber gänzlich in der arktischen Tundra anzukommen, muss man noch ein wenig in die Höhe steigen. Die niedrigen Temperaturen in der Vegetationsperiode haben die Baumgrenze hier auf 500 bis 700 Meter fallen lassen. Die Regel besagt: Je kälter es in den Sommermonaten, also der Vegetationsperiode ist, desto mehr sinkt die Baumgrenze nach unten. Steigen die Temperaturen im Juli im Schnitt nicht über 10 Grad Celsius, können keine Bäume mehr wachsen. Man bezeichnet diese Grenze als die sogenannte 10-Grad-Juli-Isotherme, die offizielle Grenze zur Arktis. Diese offizielle Abgrenzung bezieht sich zwar auf Meeresniveau, das baumlose Hochfjell im Norden Schwedens unterscheidet sich aber in keinster Weise von der wirklichen „Arktis“. Für mich ist diese geschwungene baumlose Landschaft wie Meditation, die mich unmittelbar in eine ruhigere Welt entführt, in der die allgegenwärtige Bedeutung von Zeit deutlich an Wert verliert. Vielleicht ist dieses Gefühl ein Ausdruck der alten Gesteine in dieser Region, die stellenweise seit mehr als zwei Milliarden Jahren die Entwicklung unseres Planeten begleiten. Nur während der letzten Eiszeiten wurde diese Landschaft noch einmal maßgeblich überformt, als sich eine bis zu 3000 Meter mächtige Eiskappe über das nördliche Skandinavien legte, deren Ausläufer sich bis in den Norden Deutschlands erstreckten. Man hat irgendwie das Gefühl, dass eine gewisse Erhabenheit von diesen uralten Bergen ausgeht. Mir kommt ein Zitat von Willem Dafoe in den Sinn, der als Sprecher in „Mountain“, zusammen mit dem Australian Chamber Orchestra eine filmerische Hommage an die Berge dieser Welt begleitete: „Berge schmälern das menschliche Dasein, offenbaren unsere Bedeutungslosigkeit… Es gab sie lange vor uns. Sie sahen uns kommen und werden uns gehen sehen.“
Diese Berge hier finden in keiner internationalen Dokumentation über die Schönheit der Gebirge unserer Welt Erwähnung. Sie sind schlichtweg nicht spektakulär genug, und ihre innere Superlative verbirgt sich hinter ihrer Entstehungsgeschichte. Alle alpinen Hochgebirge dieser Welt sind geologisch betrachtet sehr jung, und erst in den letzten 50 Millionen Jahren entstanden. Die Gebirge Schwedens und Norwegens sind ganze 350 Millionen Jahre älter. Das beeindruckende dieser Berge ist somit nicht ihre Höhe oder spektakuläre Form, die im Zyklus einer Gebirgsentwicklung immer ein Zeichen für ein junges Stadium ist. Die beruhigende Erhabenheit dieser Berge geht von ihrem Alter aus und schenkt dem stillen Betrachter ein gänzlich neues Gefühl für die Zeit.
Zwei Tage später stehe ich vor meiner kleinen Hütte in Nikkalouokta, eine Sami-Siedlung, eine gute Autostunde von Kiruna entfernt, und verfluche die Kälte plötzlich, nach der ich mich vor wenigen Tagen noch so gesehnt hatte. Das Thermometer zeigt -21 Grad und über uns zeigen sich die ersten Vorboten des Polarlichts. Ich habe mich dazu hinreißen lassen mein Kamerastativ aufzubauen und dabei ein paar kleine Fehler gemacht. So warm einem vor dem Ofen im inneren der Hütte auch sein mag, die eigene innere Wärme ist bei diesen Temperaturen schnell verschwunden, und verabschiedet sich zuerst aus den Ohren, Füßen und Fingern. Schon ein leichter Windhauch kann dabei beißende Schmerzen hervorrufen, die einen, trotz aller Schönheit des leuchtenden Nordhimmels, schnell wieder zurück in die warme Behausung zwingen. Zum Glück entscheide ich mich für einen zweiten Anlauf, diesmal ohne Kamera, dafür aber mit wärmeren Klamotten, und stehe etwas später noch einmal im Freien. Was sich mir jetzt darbietet ist nur auf physikalischer Ebene mit Worten zu beschreiben, die Schönheit von Aurora Borealis trotzt dagegen den Fähigkeiten menschlicher Worte. Die Kenntnis der Ursache dieses Naturphänomens, lassen dieses Schauspiel allerdings nicht weniger faszinierend erscheinen, so dass mich nach einer knappen Stunde erst mein steifer Hals zur Kapitulation zwingt. Kaum vorstellbar was die frühen Völker der Polarregionen empfunden haben müssen, wenn Sie diese Lichter am Himmel erblickten. Die Kulturgeschichte des Nordens überliefert jedenfalls selten positive Interpretationen. Ich hingegen gehe glücklich ins Bett und interpretiere die Nordlichter am zweiten Abend durchaus als ein positives Omen für den Verlauf der kommenden zwei Wochen.
Ein paar Tage später sitze ich wieder im Zug. Diesmal auf dem Abschnitt zwischen Kiruna und dem Zielbahnhof Narvik. Schon kurz nach der Abfahrt beginnt wieder die schwedische Bergwelt und wir durchfahren zeitnah Abisko, ebenfalls eine bekannte Zieldestination für Schneeschuhtouren und Nordlicht-Beobachtungen. Die meisten Touristen bewegen sich aber nur in unmittelbarer Nähe zur Mountain Station. Die wenigsten dringen weiter als wenige hundert Meter in den Abisko-Nationalpark vor, und so ist es im Winter fast überall menschenleer. Selbst in der Nähe von Orten wie Kiruna oder Abisko findet man schnell seine Ruhe und Einsamkeit, sofern man diese bei -20 Grad auch gerne möchte. Bei Riksgränsen verlassen wir Schweden und schon kurze Zeit später verändert sich auch die Landschaft. Schnell verlieren die Berge in Richtung Meer an Höhe, und das Relief wird deutlich steiler. Schon bald taucht tief unten in den Tälern zum ersten Mal Wasser in nicht gefrorenen Zustand auf. Ein Seitenarm des Herjangsfjords, der wiederum zum Ofotfjord wird. Hier beginnen die Lofoten und Vesterålen, die durch den breiten Vestfjord vom norwegischen Festland getrennt sind. Narvik ist zugleich Ende der Zugreise, aber auch Beginn einer neuen Landschaft, die durch steil aufragende Berge und tiefe Fjorde gekennzeichnet ist. Man spürt es bereits im Zug, dass auch diese Landschaft völlig neue Eindrücke und Emotionen für den Reisenden bereithält. In der kommenden Woche werden wir zudem auch noch den Blick unter die Wasseroberfläche richten, wo wir auf Begegnungen mit den Pottwalen, Orcas und Grauwalen hoffen, die vor allem in den Wintermonaten hier in großer Zahl anzutreffen sind.
Der Zug verliert derweil immer weiter an Höhe und legt auf der kurzen Strecke zwischen Riksgränsen und Narvik noch einmal 500 Höhenmeter zurück. Der steile Abfall einer Spannungskurve, die sich die gesamte Strecke über aufgebaut hat und ihren Höhepunkt zwischen Abisko und der norwegischen Grenze hatte. Rückblickend erscheint mir diese Zugfahrt tatsächlich wie eine perfekt inszenierte Symphonie, welche die Geschichte dieser einzigartigen Landschaft erzählt. Stundenlang zieht dieses Kunstwerk aus Bergen, Schnee und Licht am Fenster des Zuges vorbei, so dass man nicht ein einziges Mal seinen Blick abwenden möchte. Kaum vorstellbar, um wie viele Eindrücke und Entschleunigung uns ein Flug nach Narvik berauben würde. Ich selbst habe durch diese Zugfahrt das Reisen wieder auf eine neue Weise für mich entdeckt, so dass ich mir nicht mehr vorstellen kann, diese Strecke mit dem Flugzeug abzukürzen. Aber neben all den visuellen Eindrücken, die diese Zugfahrt zu bieten hat, darf der allgemeine Mehrwert von Zugreisen nicht unterschlagen werden. Es ist falsch Zugreisen zu bewerten, indem man damit beginnt den Verlust an Urlaubszeit gegenzurechnen. Die Reise, oder genauer die Anreise, die noch vor einiger Zeit ein essentieller Bestandteil des Reiseerlebnisses war, ist irgendwann in den letzten Jahrzehnten zu einem lästigen Übel geworden, welches man für die Belohnungen der Zieldestination in Kauf nehmen musste. Zugreisen hingegen geben uns wieder ein Gefühl für Distanzen und belohnen uns mit steigender Vorfreude, Entschleunigung und einem fast vergessenen Gefühl für Abenteuer. Sie sind Teil einer Bewegung, die das Reisen wieder aus der Auslage eines Fastfood-Restaurants auf das Niveau eines mehrgängigen Menüs in unserem Lieblings-Restaurant heben kann. Mit dem Reisen verhält es sich nicht anders als mit Lebensmitteln und Bekleidung. Billig, schnell und viel ist weder gut für uns noch für den Planeten. Achtsamkeit und Nachhaltigkeit können demnach auch beim Reisen zu einem Mehrwert beitragen, der uns das Reisen völlig neu entdecken und genießen lässt. Mit dem Zug anzureisen ist dabei doch ein guter Anfang.