Sternschnuppen am Morgen
TEXT & FOTOS
André Baumeister
Es ist 07 Uhr, als ich das erste Mal vor die Tür trete und es ist immer noch stockdunkel. Kein Anzeichen von Helligkeit zu erahnen und das wird auch noch eine Weile so bleiben. Wir befinden uns auf ca. 70 Grad nördlicher Breite, wo die Sonne sich schon seit einigen Tagen nicht mehr hat blicken lassen. Bis vor gut einer Woche blinzelte sie zwar immer noch kurz über den Horizont, die Berge, die uns hier in den Fjorden überall umgeben, verhindern aber schon deutlich länger, dass die wärmenden Sonnenstrahlen auch wirklich auf unsere Gesichter treffen können. Nur die beschienenen Berggipfel bezeugen in dieser Übergangszeit dann noch ihre Anwesenheit, aber das ist nun auch schon eine Weile her. Zwischen dem 24.11. und dem 17.01., also genau 53 Tage, geht die Sonne hier im norwegischen Reinfjord, nördlich der Lyngen-Alpen, gar nicht mehr auf. Auf 71 Grad Nord, also exakt 111 km weiter nördlich, ist die Polarnacht schon 10 Tage länger. Für manche Bewohner der Regionen oberhalb des nördlichen Polarkreises tatsächlich immer noch ein verhältnismäßig kurzer Zeitraum. Auf Spitzbergen, genauer in Longyearbyen, der nördlichsten “Kleinstadt” Norwegens (78 Grad Nord), bleibt die Sonne zwischen dem 26. Oktober und dem 15. Februar vollständig unter dem Horizont. Von der wirklichen Polarnacht spricht man, wenn die Sonne sich mindestens 6° unter der Horizontlinie befindet. In Longyearbyen ist das zwischen dem 11.11. und 30.01. der Fall. In diesen Tagen ist es tatsächlich fast durchgehend dunkel. Doch auch wenn die Sonne am 15. Februar wieder zurückkehrt, bekommen sie die Bewohner der Stadt erst am 8. März wieder zu Gesicht, da sie davor noch von den Bergen verdeckt wird.
Man muss allerdings nicht erst nach Spitzbergen reisen, um als Mitteleuropäer schon einen ersten Eindruck davon zu bekommen, wie sich die langen Winternächte anfühlen. Mit Schweden, Norwegen und Finnland liegt ein beachtlicher Teil des europäischen Festlandes oberhalb des Polarkreises und somit oberhalb der astronomischen Grenze, die sich durch den Polartag und die Polarnacht definiert. Auf exakt 66 Grad, 55 Minuten und 33 Sekunden nördlicher (und auch südlicher) Breite, erreichen wir die Linie, ab der sich die Sonne für genau einen Tag im Jahr 24 Stunden zeigt, aber auch an einem Tag vollständig hinter dem Horizont verschwunden ist. Dies ist hier jeweils genau während der Sonnenwenden, im Sommer um den 21. Juni, und im Winter um den 21. Dezember der Fall. Zwischen dieser Linie und dem Reinfjord, also dem Ort an dem ich mich gerade befinde, liegen ca. 400 km Luftlinie, was auf die Anwesenheit der Sonne oder eben das genaue Gegenteil davon enorme Auswirkungen hat.
Aber noch einmal, die Tatsache, dass die Sonnenstrahlen für ganze 53 Tage nicht mehr direkt über den Horizont scheinen, bedeutet nicht, dass es hier vollständig dunkel ist. Die Leuchtkraft der Sonne bestimmt immer noch den Tagesrhythmus. Selbst am kürzesten Tag des Jahres ist es ca. 4 Stunden lang so hell, dass man während dieser Zeit im Freien ein Buch lesen kann. Tatsächlich entspricht dies genau der Definition für die sogenannten “bürgerliche Dämmerung”, die überall dort noch Auftritt, wo die Sonne nicht weiter als 6 Grad unter die Horizontlinie absinkt. Aber selbst all diese, zugegeben stumpf klingenden Definitionen und Beschreibungen, können niemals die Stimmungen beschreiben, welche dieses magische Licht in die Landschaft zaubert. Fotografen kennen die wenigen Minuten vor Sonnenauf- und nach Sonnenuntergang, diese winzigen Zeitfenster, die oftmals über das Gelingen eines perfekten Bildes entscheiden. Gerade die Abwesenheit der Sonne zaubert in diesen kurzen Augenblicken Farben in die Landschaft und an den Horizont, die wir in der Regel nur selten zu Gesicht bekommen. Wird der Himmel nicht von Wolken bedeckt, erstreckt sich hier im Norden dieses magische Licht über die gesamte Tageslänge. Die Sonne zieht auch im Hintergrund noch die Fäden für ein Lichtspektakel aus Pastellfarben in rot- und blautönen jeglicher Art, fast so, als hätte jemand das Weiß des winterlichen Schnees zur Abmischung der nordischen Farbpalette verwendet. Schatten existieren während dieser Zeit nicht, wodurch sich diese Farbpalette über jedes Detail dieser dramatischen Landschaft aus Bergen und Meer ergießt.
Verschwindet das Licht am frühen Nachmittag, wird man oft von einer tiefen Müdigkeit erfasst. Aus rein physiologischer Perspektive ebenfalls ein Phänomen, welches auf die Abwesenheit direkten Sonnenlichts zurückzuführen ist. Wenig Licht fördert die Bildung von Melatonin, reduziert aber wiederum die Vitamin D Produktion im Körper. Beides sind Faktoren, welche die Müdigkeit verstärken, die mich selbst immer wieder zu einem Mittagsschlaf zwingt. Eine wohlverdiente Pause vor dem zweiten Akt der arktischen Vorstellung, die aber nicht in jeder Nacht aufgeführt wird. Mit der langen Nacht verschwindet keinesfalls die Chance auf ein weiteres Lichtspektakel. Zwar sind gutes Wetter und Geduld eine wichtige Voraussetzung, stimmen jedoch die Bedingungen, tritt die Sonne ein weiteres Mal in Aktion. Auch in diesem Fall betritt sie wieder nicht selbst die Bühne, sondern zieht die Fäden abermals wie ein Regisseur im Hintergrund. Ihre Schaffenskraft zeigt sich in einem Spektakel aus grünen, roten oder blauen Lichtern, die sich mal still und zaghaft, mal voller Energie, in tanzenden, sich ständig wechselnden Formen über den nordischen Nachthimmel erstrecken. Es ist aber nicht das Licht der Sonne, welches Aurora Borealis, besser bekannt als das Nordlicht, entstehen lässt. Das Leuchten wird erst in unserer Atmosphäre erzeugt, wenn geladene Teilchen der Sonnenwinde auf Sauerstoff- und Stickstoffatome treffen. Diese physikalische Anregung zeigt sich für uns als sichtbares Licht und zeigt uns auch in absoluter Dunkelheit, wie allgegenwärtig und bedeutend die Sonne auf dieser Erde ist.