Wo die Arktis beginnt
Text & Fotos André Baumeister
Im Juli dieses Jahres, genauer zwischen dem 10. und 26.07., haben wir uns einen langjährigen Traum erfüllt. Eine Expedition nach Oströnland. Nachdem die Reise bereits 2020 komplett organisiert war, wir die Gruppe zusammen und Flüge gebucht hatten, musste die Tour aber, wie so viele andere Reisen in dieser Zeit auch, aufgrund von Corona abgesagt werden. Mit einer vierjährigen Verzögerung durften wir in diesem Sommer dann aber doch zusammen das erste Mal das zweitgrößte Innlandeis der Erde aus (fast) nächster Nähe erfahren und dazu die Arktis auf eine ganz neue Weise kennenlernen. Mit den kommenden Worten möchte ich euch aber keinen Erlebnisbericht unserer Reise liefern. Vielmehr möchte ich die Möglichkeit nutzen, am Beispiel Grönlands einmal zu hinterfragen, was genau die Arktis eigentlich ist und euch dabei mitnehmen auf meine persönliche Reise in den hohen Norden, die letztendlich auch zur Entstehung des FRAM-Projekts geführt hat.
Die Arktis war für mich immer Sinnbild für Abenteuer, unberührte Natur und die Möglichkeit, in der Stille und Weite der Tundra ganz nah bei sich selbst zu sein. Meine Liebe zur Arktis begann lange bevor ich diese Region unseres Planeten zum ersten Mal betreten sollte. Die Bücherregale meines Vaters waren voll von Bildbänden und Reiseberichten aus Alaska. Sein eigenes großes nordisches Abenteuer aus den 70er Jahren hatte er in vier großen Diaboxen archiviert, die für mich noch heute einer der größten Schätze meiner Kindheit sind. Vielleicht ist es Einbildung und gehört deshalb zu den vielen Mythen der eigenen Biografie, die man immer wieder erzählt, weil man so gerne daran glauben würde, bis man sie dann irgendwann wirklich für die Wahrheit hält. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich schon damals gespürt habe, wie sich Blick und Stimme meines Vaters verändert haben, wenn er von seinem großen Abenteuer erzählt hat.
Motiviert durch einen alten Freund meines Vaters, seines Zeichens Bundeswehrarzt, aber vielmehr Abenteurer und Lebenskünstler, durchquerten sie 1974 auf Pferden die Kenai Halbinsel jagten Elche und Karibus, gemeinsam mit ein paar Alaskanern, deren Gesichter mir noch heute so bekannt sind, als wären sie langjährige Freunde unserer Familie gewesen. Mein Vater musste zurück in die westfälische Heimat, um den Familienbetrieb zu übernehmen, und ist danach nie wieder nach Alaska zurückgekehrt. Sein Freund hat sich irgendwann so sehr von allem weltlichen entfernt, dass sein Leben vor ein paar Jahren in der Psychiatrie ein Ende nahm. Ich kenne keine Hintergründe, doch stelle ich mir gerne vor, dass sein Verstand, der ihn offenbar verlassen hat, irgendwo dort oben in der Brooks Range geblieben ist und seinen Frieden gefunden hat.
Ein verschwommener Dia Scan. Aufgenommen irgendwo an der alaskanischen Küste im Herbst 1974.
Alaska, 1974.
Fest steht, dass zumindest meine Begeisterung für die nördlichen Breiten in diesen Jahren geboren wurde und ich seither den Globus am liebsten von oben betrachte. In Homer, Alaska, dem Ort, der damals Ausgang für die vielen Abenteuer war, durften wir 2014 den ersten Geburtstag unseres Sohnes feiern, dessen Entstehung genau für den Tag berechnet wurde, an dem mein Vater ins Koma gefallen ist. Leider bin ich kein Esoteriker, würde mich aber manchmal doch gerne in solchen Zufällen verlieren und weiter über deren Bedeutung nachdenken. Doch auch wenn ich nicht an irgendwelche Formen höherer Bedeutung glaube, freue ich mich immer wieder über solche Zusammenhänge und Verbindungslinien im Leben. Diese Linie nach Alaska wurde jedenfalls nie gekappt und ich kann noch heute in allem, was ich hier mit FRAM und darüber hinaus tue, einen Anfang in den Inhalten dieser Diaboxen erkennen, die hier in meinem Büro gleich hinter mir stehen. Und auch wenn ich keine Klangschale und Räucherstäbchen daneben aufgestellt habe, klingt zumindest die Geschichte dahinter ganz nett. Mein eigenes erstes großes Abenteuer hatte ich weder in Alaska noch in der Arktis. Ich war „nur“ in Schottland, aber zumindest war mein Vater mit dabei. Zwischen 12 und 15 verbrachte ich meine Herbstferien fliegenfischend und meist allein mitten in den Highlands, während die älteren Herren (damals jünger als ich heute) mit Tweed Jacket und Krawatte auf dem nassen Moorboden kriechend Rothirschen nachstellten. Als pubertierender Junge eine Beschäftigung, der man nicht zwingend beiwohnen möchte, weshalb ich die Zeit zwischen dem Fischen hauptsächlich damit verbrachte in die baumlosen Highlands zu starren und zwischendurch auch mal ein Foto zu schießen. Zwei Dinge, die ich heute noch gerne tue. Was sich in dieser Zeit aber auch in meinem Kopf manifestiert hat, ist eine innige Liebe für diese weiten baumlosen Landschaften, die als Tundra, nördlich des Polarkreises, fest mit dem Begriff der arktischen Landschaft und Definition verknüpft sind. Sobald die Bäume verschwinden, ob in der alpinen Stufe der Alpen, oder in den Fjelllandschaften Schwedens, oberhalb der Baumgrenze bin ich glücklich und fühle mich zuhause.
Ostgrönland, 2024.
Seit 2012 verbringe ich nun fast jeden Sommer weit nördlich des Polarkreises, in der Hocharktis von Spitzbergen. Den Polarkreis habe ich schon deutlich früher überquert, genauer im Herbst 2006 auf dem norwegischen Landweg. Obwohl ich es aufgrund meines Studiums eigentlich hätte besser wissen müssen, dachte ich damals, mit der Überquerung des 66. Breitengrades (ich unterschlage an dieser Stelle die 33 Minuten) zum ersten Mal arktischen Boden betreten zu haben. Kein wirkliches Wunder, wenn man bedenkt, dass man diesem Begriff spätestens ab Mo i Rana, mit zunehmender Häufigkeit in Richtung Norden, überall begegnet. Das nicht nur die Marketingabteilungen der lokalen Tourismusverbände damit falsch lagen, sondern auch ich die eigentliche Arktis deutlich später betreten durfte, sollte ich erst ein paar Jahre später erfahren.
Also was genau ist eigentlich die Arktis?
Klar gibt es nicht die eine Arktis und auch von einer deutlichen Grenze zu sprechen, an der man mit einem Fuß in der Arktis und mit dem anderen in den gemäßigten Breiten steht, entspräche nicht der Realität. Es wäre aber ebenso anmaßend, die zahlreichen Definitionen und wissenschaftlichen Abhandlungen zu diesem Begriff zu ignorieren und einen dann doch wieder klar definierten Begriff einfach nach Lust und Laune zu verwenden. Aber warum dann nicht einfach den klar definierten Polarkreis als Grenze festlegen, der als Grenze zumindest sehr einfach festzusetzen wäre. Zwar bestimmt dieser Breitengrad die astronomische Grenze, welche während der Sonnenwenden über das Auf- und Untergehen der Sonne entscheidet, aber schon ein kurzer Blick auf die Landkarte offenbart, dass bestimmte Regionen so nicht der Arktis zugerechnet würden, die wir nach unserem Verständnis aber klar dem Nordpolargebiet zuordnen. Zu nennen wären da große Teile Kanadas und Alaskas, Island oder auch der Süden Grönlands. Ebenso würde eine Beschränkung auf die Eiskappen Grönlands und der Antarktis der Ausdehnung des arktischen Lebensraumes bei weitem nicht gerecht werden.
Nach drei Tagen Trekking offenbart sich dieser Blick auf den Sermilik Fjord.
Auch das Auftreten von Meereis oder Permafrost, also dauerhaft gefrorener Boden, ist aufgrund seiner Dynamik nicht für eine Grenzziehung geeignet. Ein Blick auf die Verteilung dieser beiden Phänomene, die ja doch ein zentrales Merkmal der Arktis darstellen, deutet jedoch schon grundlegende Probleme an, wegen derer nicht einfach eine klare geometrische Grenze verwendet werden darf. Schaut man sich Karten an, welche die Verteilung von Meereis (im besten Fall in den Wintermonaten) und Permafrost darstellen, sieht man deutlich, wie sehr die Verteilungsmuster von einer klaren geometrischen Definition, wie zum Beispiel dem Polarkreis, abweichen. Während die Fjorde Nordnorwegens auf ca. 68° nördlicher Breite ganzjährig eisfrei sind, friert die Hudsonbay, deren südlichster Punkt auf ca. 51° nördlicher Breite liegt (das entspricht ungefähr der Lage des Ruhrgebiets) im Winter für mehrere Monate zu. Ebenso sieht es mit der Verteilung von Permafrostboden aus, welcher sich beispielsweise in Sibirien ebenso bis in Breitengrade knapp oberhalb von 50° Nord erstreckt.
Man muss aber gar nicht in den Untergrund schauen, um diese ungleiche globale Verbreitung „arktischer Naturelemente“ zu erkennen. Auch mit der Baumgrenze verhält es sich ganz ähnlich. Diese wird allgemein durch die Temperaturen in der Vegetationsperiode gesteuert, welche wiederum durch die Geländehöhe, aber auch durch die geographische Lage bzw. die Nähe zum Nordpol beeinflusst wird. Allgemein gilt: Die Temperaturen nehmen mit zunehmender Höhe und geographischer Breite ab. Diese beiden Faktoren beeinflussen sich gegenseitig. Während die Baumgrenze in den Alpen noch bei bis zu 2400 Metern liegen kann, liegt sie bei Tromsø nur noch bei ca. 700 Metern über NN. Irgendwo bei Hammerfest findet man dann selbst auf Meeresniveau gar keine Bäume mehr und wir befinden uns offiziell in der Tundra. Auch wenn die Tundra aus biologischer Perspektive nicht wirklich baumlos ist, zeichnet sich diese Vegetationszone dadurch aus, dass wir hier keine hochwachsenden Bäume mehr finden, wie noch in den südlich borealen Wäldern. Die Tundra spielt für die Definition der Arktis eine zentrale Rolle und nicht nur in der biologischen Taxonomie taucht hier zum ersten Mal der Begriff „polar“ auf. Ganz augenscheinlich und offensichtlich verändert sich die Welt nördlich der Baumgrenze. Pflanzen, Biomasse, Lebensformen, aber auch Geschichte, Kultur und Emotionen, scheinen sich irgendwie an der Grenze des Waldes zu orientieren. Werfen wir wieder einen Blick auf eine Karte, welche den Verlauf der Baumgrenze auf der nördlichen Hemisphäre zeigt, fällt direkt auf, wie wenig sich die Grenzen der Vegetationszonen an den geographischen Breitengraden orientieren. Während sich die Tundra in Kanada wieder bis zu den südlichen Ausläufern der Hudson Bay erstreckt, finden wir sie in Skandinavien nur im äußersten Norden Norwegens, mehrere hundert Kilometer nördlich des Polarkreises, abgesehen natürlich von den Hochebenen der skandinavischen Gebirge, wo die Geländehöhe wieder eine wichtige Rolle spielt.
Auf der einen Seite versperrt und das viele Eis im Sermilik Fjord die Fahrt zum Inlandeis. Auf der anderen Seite bekommen wir ein unglaubliches Naturschauspiel geboten.
Karaale Gletscher.
Um dieses Phänomen zu erklären, müssen wir, neben der Meereshöhe und der geographischen Breite, zwei weitere Faktoren berücksichtigen, welche die Temperaturverteilung auf der Erde beeinflussen. Kontinentalität und Meeresströmungen. Bei beiden Faktoren spielt die Nähe zum Meer und dessen Funktion als Wärmespeicher eine zentrale Rolle. Mit zunehmender Distanz zu diesem Wärmespeicher verliert dieser seine Funktion, wodurch die Winter immer kälter und die Sommer wärmer werden. Der jährliche Verlauf der Temperaturkurve zeigt einen deutlich größeren Gradienten und wir sprechen von einem kontinentalen Klima, wie wir es beispielsweise in Sibirien vorfinden. Die unterschiedlichen klimatischen Bedingungen an den nördlichen Küsten Kanadas und Europas lassen sich so allerdings nicht erklären, da die Nähe zum Meer in beiden Regionen gegeben ist. Schauen wir uns zur Veranschaulichung dieser Unterschiede einmal kurz die Jahresdurchschnittstemperaturen zweier Küstenorte an, die auf nahezu gleicher geographischer Breite liegen. Während wir in Tromsø über einen Zeitraum von 30 Jahren eine gemittelte Durchschnittstemperatur von ca. 2 Grad Celsius verzeichnen, liegt die Jahresdurchschnittstemperatur in Clyde River auf Baffin Island ganze 14 Grad Celsius niedriger, also bei -12 Grad Celsius. Beide Orte liegen auf dem 68. Breitengrad unmittelbar am Meer. Beide Regionen werden aber durch völlig gegensätzliche Meeresströmungen beeinflusst. Tromsø durch den warmen Norwegenstrom, einem Ausläufer des Golfstroms, der auch immer wieder als die Wärmepumpe Europas bezeichnet wird, Clyde River durch den von Norden kommenden und somit kalten Labradorstrom.
Gipfelblick auf das Meereis in der Dänemarkstraße.
Die Jahresdurchschnittstemperatur reicht aber allein nicht aus, um die Verbreitung der Tundra zu erklären. Wäre dem so, müsste die Baumgrenze in Sibirien deutlich weiter südlich liegen. Wie bereits erwähnt wird die Baumgrenze durch die Temperaturen in der Vegetationsperiode also den Sommermonaten beeinflusst. Da diese bei kontinentalen Klimaten oft sehr hoch liegt, können hier auch Bäume noch deutlich weiter nördlich wachsen, vorausgesetzt die kommen mit den extremen Temperaturen der Wintermonate zurecht. Die hierfür notwendige Durchschnittstemperatur im Sommer liegt bei 10 Grad Celsius. Liegt die Temperatur im Juli unterhalb von 10 Grad, können die Bäume der borealen Zonen nicht mehr wachsen. Die klimatische Grenze zur Tundra wird somit auch als 10°-Juli-Isotherme bezeichnet, eine gedachte Linie, welche die Regionen begrenzt, deren Durchschnittstemperatur im Hochsommer nicht über diesem Wert liegt und in etwa die Linie der Baumgrenze bildet – die Grenze zur Arktis.
Mit diesem Wissen müssen wahrscheinlich viele Leserinnen und Leser ihre eigenen Arktis-Erlebnisse neu definieren, da man plötzlich feststellt, dass man doch nur auf ein kluges Tourismusmarketing reingefallen ist und eigentlich selber in Tromsø, Kiruna oder sonst wo nördlich des Polarkreises gar keinen arktischen Boden betreten hat. Oder andersherum, so weiß man doch jetzt, dass Island, trotz seiner fast vollständigen Lage südlich des Polarkreises per Definition zu einem überwiegenden Anteil der Arktis zugerechnet werden kann.
Arktische Lebensweise
Ich musste erst nach Spitzbergen Reisen, bis hoch zum 78. Breitengrad, um zum ersten Mal wirklich in der Arktis zu sein. Und auch wenn ich mittlerweile auf 12 arktische Sommer auf diesem kleinen Archipel zurückblicke, kann ich erst seit diesem Juli im Osten Grönlands wirklich behaupten, einen ganz wichtigen Teil der Arktis kennengelernt zu haben, der in keiner klimatologischen und ökologischen Definitionen einen Platz findet. Die Menschen der Arktis. Und damit meine ich nicht die zugezogenen Wissenschaftler auf Spitzbergen oder die Guides, die mit ihrem unbenutzten Sami-Messer am Gürtel und ihrem Devold Wollpulli den Arctic-Lifestyle instagramable gemacht haben. Ich meine die wirklichen Ureinwohner der Arktis. Die Inuit, die Yup’ik, die Nenzen, die Tschuktschen oder die Saami. Noch bevor es Klimamessungen gab und die Geographie als Wissenschaft gegründet wurde, waren es die Volksgruppen und ihre traditionelle Lebensweise, welche über die Grenzen einer Region entschieden haben. Die antike Klimalehre der Griechen sah einen direkten Zusammenhang zwischen klimatischen Bedingungen und der Entwicklung typischer Lebensweisen, die somit wiederum ganz klar bestimmten Klimazonen zuzuordnen waren. Gedanken und theoretische Ansätze, die dann während der Kolonialzeit völlig falsch interpretiert und pervertiert wurden, und durch den Sozialdarwinismus auch eine Grundlage für die Rassentheorien der Nazis waren. Es ist aber keineswegs so, dass die Zuordnung der in der Arktis lebenden Volksgruppen zu ihrem Lebensraum in der heutigen Realität keine Rolle mehr spielt. Vielmehr ist durch den arktischen Rat, einem zwischenstaatlichen Forum der acht Anreinerstaaten und den in der Region lebenden indigenen Völkern, ein fest definierter Bezug zwischen Volksgruppe und Arktis geschaffen worden. Die verschiedenen Volksgruppen der Ureinwohner haben sich in sechs Dachorganisationen organisiert, die zu den ständigen Teilnehmern des arktischen Rates gehören. Hierzu gehören der Iniut Circumpolar Council, der Saami Council, die RAIPON (die Assoziation der russischen Völker des Nordens), die Aleut international Association, der Arctic Athabaskan Council und der Gwich’in Council.
Salo Kunuuq.
Es wäre anmaßend, wenn ich mich an dieser Stelle zu irgendeiner Floskel oder im besten Fall noch zu einem historischen Abriss über die Besiedlungsgeschichte der Arktis hinreißen lassen würde. Auch Urteile über die Zukunft der arktischen Völker, die Herausforderungen des Klimawandels, Rohstoffabbau usw. sind aus meinem Mund nicht angebracht. Kurz: Ich habe keine Ahnung. Ich kenne diese Menschen nicht, ich weiß nichts über ihre Entwicklung, ihre Schicksale, ihre Lebensweise und ich finde unangebrachte Romantisierungen einer archaischen Welt, die keinen Platz mehr in unserer modernen schnelllebigen Zivilisation findet in den meisten Fällen zum Kotzen. Westliche Reisende neigen oft so sehr zu einer Romantisierung des vergangenen Fremden, dass ein (meist kurzes) Leben in Torfhütten, ohne Zugang zu den Annehmlichkeiten der Zivilisation, bis in die Endlosigkeit idealisiert wird, während wir selbst aber für kein Geld der Welt unser modernes Leben gegen unsere christliche, bäuerliche Vergangenheit eintauschen würden. Auch wenn ich nichts über diese Menschen zu sagen vermag, denen ich dort in Ostgrönland zum ersten Mal begegnet bin, kann ich sehr viel darüber sagen, was diese Begegnungen in mir ausgelöst haben. Für mich haben diese kurzen Momente des Austausches das Tor zu einer völlig neuen Welt geöffnet, der ich mir zwar bewusst war, an deren Pforte ich in meinem bisherigen Leben aber immer vorbeigelaufen bin. Obwohl sich diese Welt in einer Region befindet, deren Geologie, deren Tiere und Pflanzen, deren Landschaften und Klima mir bekannter sind als die Natur meiner eigenen Heimat, ist mir dieser Teil dieser Welt bisher völlig verschlossen geblieben. Es ist, als würde eine Parallelwelt in der Arktis existieren, welche die gleiche Natur völlig anders sieht, interpretiert und wahrnimmt. Völlig neue Sprachen, Geschichten, Lebensweisen und Schicksale, welche sich in der gleichen Natur entwickelt und ereignet haben, die wir immer wieder auf mathematische Begriffe und Formeln runterbrechen, zeigen uns, dass dort in der Arktis vielleicht doch etwas ist, was wir nicht mit Hilfe der modernen Wissenschaften erklären können.
Nach einer erfolgreichen Jagd wird eine Bartrobbe zerlegt.
In Büchern steht, dass die Inuit viel mehr wahrnehmen als wir und auch psychologische Experimente konnten diese völlig andere Wahrnehmung bestätigen. Diese Fähigkeiten sind aber nicht darauf zurückzuführen, dass die Sinne eines Inuit per se anders funktionieren. Menschliche Gehirne und die hierüber gesteuerten Wahrnehmungen sind Veränderbar und passen sich an die Bedingungen des jeweiligen Lebensraumes an. Unser Hirn ist flexibel und kann sich während eines Lebens durch unseren Lebensraum aber vor allem auch durch unsere Lebensweise verändern. Aktuell wunderbar durch zahlreiche Studien belegt, die sich beispielsweise mit den Auswirkungen zügelloser Smartphone Nutzung auf unser Gehirn beschäftigen. Etwas überspitzt zusammengefasst werden wir gerade zu TikTok Dopamin Junkies, deren Aufmerksamkeitsspanne selbst von Goldfischen übertroffen wird.
Und spätestens jetzt ertappe ich mich doch dabei, wie ich auf einmal eine Welt idealisiere, von der ich eigentlich gar keine Ahnung habe. Trotzdem empfinde ich es aber auch als extrem wichtig, sich auf Reisen immer wieder zu fragen, was wir eigentlich von anderen Kulturen lernen können, meinen wir Menschen aus der Zivilisation doch meist, dass wir die Weisheiten in die Welt tragen. Auch wenn ich keine Bücher gelesen, keinen Winter in Ostgrönland verbracht oder auf einem Hundeschlitten gemeinsam mit Inuit gejagt habe. Auch wenn ich, wie schon mehrfach gesagt, keine Ahnung von der Art und Weise habe, wie die Bewohner Ostgrönlands ihre Natur sehen und interpretieren. Ich habe gelernt, wie wichtig es ist, einfach nur die Natur zu betrachten. Einfach nur zu sitzen, zu schweigen und auf einen von Eisbergen durchsetzen Fjord zu betrachten, beeinflusst unser Gehirn und unsere Wahrnehmung mehr, als wir es uns in diesem Augenblick vorstellen. Es verändert unsere Sicht auf die Dinge und gibt uns die Chance noch ein wenig im Hier und Jetzt zu verweilen und selber Teil einer Natur zu werden, die immer mehr zu einer Kulisse verkommt.
Ich freue mich darauf, mehr über und von den Menschen der Arktis zu lernen. Aber ich freue mich auch darüber, in diesem Sommer mit wirklich wunderbaren Menschen Grönland besucht haben zu dürfen! Für Sie habe ich zwar keine Diabox mehr, dafür aber einen besonderen Platz in meinen Erinnerungen und damit in einer Geschichte, die 1974 in Alaska begann.